Innenarchitektin Inga Ganzer im Interview | 10plus1 Fragen no18
„Aus der Geschichte können und sollten wir lernen. Das ist kein alter Hut – weder in Politik und Gesellschaft, noch in der Architektur.“
Inga Ganzer ist Innenarchitektin und Partnerin im Büro raumdeuter in Berlin, das Holger Beisitzer, Juliane Moldrzyk und sie 2007 gemeinsam gründeten. Der Name steht für spannende Aufgaben bei der Gestaltung von Innenräumen, Motto: Bestehendes respektieren und daraus das Beste herausholen, passend für die angestrebte Nutzung. Inga Ganzer ist zudem promovierte Kunsthistorikerin sowie Lehrbeauftragte. Ihre Veröffentlichungen befassten sich u.a. mit der Reformbewegung von Hermann Muthesius und dem frühen Einfluss Japans auf die westliche Innenraumgestaltung.
Im 10plus 1 Interview erzählt sie von ihren Einflüssen sowie ihrer Vorliebe, Altes respektvoll zu erneuern. Sie teilt mit uns, was sie inspiriert, etwa das Buch 7 Wege zur Effektivität oder auch handwerkliche Onlinevideos. Und sie berichtet, wie sie im Job ihre Frau steht – trotz Mental Load.
1. Wären Sie nicht Innenarchitektin geworden, dann...?
Gartenbauingenieurin/-architektin oder Historikerin: Natur und altes Wissen faszinieren mich. Innenarchitektin wollte ich aber schon seit der Schulzeit werden.
2. Wer sind Ihre Vorbilder?
Ich habe keine konkreten, als Jugendliche beeindruckte mich Florence Nightingale.
3. Welche Persönlichkeiten bewundern oder inspirieren Sie?
Menschen, die mit scheinbar immer fröhlichem, ausgeglichenem Wesen und unendlicher Toleranz für andere da sind, ohne sich selbst aufzugeben. Alle, die aus Passion ihren Beruf zum Lebensinhalt machen. Dabei auch zwei oder drei Ausbildungsrichtungen kreativ verknüpfen und den Mut aufbringen, sich dafür noch einmal zu verändern.
4. Welche Bücher, Magazine, Serien oder Musikstücke begeistern Sie?
Ich lese sehr viel und recht schnell, daher gibt es immer neue Inspirationen und Denkanstöße. Bücher: „Kollaps“ und „7 Wege zur Effektivität“. Bei der Arch+ beeindrucken mich Weitsicht und Erkenntnis, wie tief Architektur mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist. Die Brandenburg-Romane von Juli Zeh spiegeln meine Lebenswirklichkeit, bei Frankreich-Krimis kann ich gut entspannen. Statt Fernsehen mag ich handwerkliche Online-Videos. Filme und Musik werden hoffentlich wieder wichtiger, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
5. Welches Bauwerk oder Interior beeindruckt Sie?
Die klassische Frage. Vielleicht ist es auch architektentypisch, darauf immer mit einer Ikone der Architekturgeschichte zu antworten. Mich beeindrucken die mahnenden Innenräume der Kreuzkirche in Dresden (grober Putz) und Westminster Cathedral in London (rußgeschwärzte Decke). Keine Wiederherstellung, sondern ein besonderer Umgang mit dem Gebliebenen. Daher begeisterte ich mich wohl im Studium für > Carlo Scarpa. Ich mag Projekte, in denen die alte Substanz respektiert wird, das Neue sich deutlich, aber auch ästhetisch zurückhaltend zeigt und wo mit Überlegung und Liebe bezüglich Nutzern und Funktionen geplant wurde. Spontan fallen mir die Luthers Taufkirche St. Petri > aff architekten in Eisleben und die Neugestaltung der ausgebrannten Kirche in Walldorf/Werra ein. Das Sakrale ist schon beeindruckend und Historisches sowie Neues trifft in besonderer Weise aufeinander.
6. Was bremst Sie aus in Ihrer Vision als Kreative?
Kunden ist manchmal schwer zu vermitteln, dass wir uns für eine gute Lösung zuerst intensiv mit der Aufgabe beschäftigen. Und dass vor allem sie selbst sich mit ihren Bedürfnissen und den Umständen befassen müssen. Kommunikation auf Augenhöhe und ein intensiver Austausch sind das A und O.
7. Die Rolle der Architektinnen ist heiß diskutiert. Viele beklagen fehlende Anerkennung oder Verantwortung. Zu recht?
Hhm… Als Kind des Ostens bin ich mit dem Bild der werktätigen Frau aufgewachsen, auch in Führungspositionen und technischen Berufen. Ich habe gelernt, ohne Jammerei fleißig zu arbeiten und im Leben viel erreicht, trotz dreier Kinder. Vieles war möglich durch Ehrgeiz, frühes Aufstehen, die Unterstützung der Familie und ein Büro, in dem sich drei PartnerInnen die Zuständigkeiten aufteilen. Trotzdem hadere ich auch mit den hohen, vielfältigen Belastungen. Der neue Begriff des „Mental Load“ für Frauen ist ein Thema. Auch die Zusammenarbeit mit Handwerkern auf der Baustelle ist nicht immer auf Augenhöhe...
Anmerkung: Mental Load bezeichnet die Belastung, die durch das Organisieren von Alltagsaufgaben entsteht, die gemeinhin als nicht der Rede wert erachtet werden und somit weitgehend unsichtbar sind (wiki).
8. Woran liegt die „gefühlte“ Skepsis zwischen Architekten und Innenarchitekten?
Verallgemeinern möchte ich nichts, es gibt weder „die“ Architekten noch „die“ Innenarchitekten. Trotzdem hat man so seine Erfahrungen… Es scheint, dass manche Hochbau-Architekten die gesellschaftliche Bedeutung des Bauens allein für sich in Anspruch nehmen. Dabei wird die notwendige fachliche Kompetenz einfach ausgeblendet, die es für die Planung von Innenräumen braucht. Das zeigt sich schon daran, dass es früher kaum Möglichkeiten gab, in der Innenarchitektur zu promovieren. Oder wenn in Wettbewerben für Innenarchitektur die Aufgabe begrenzt wird auf „Ausstattung“. Die Konferenz > Interior. Inferior. In Theory? gibt hierzu interessante Denkanstöße. Viele wissen offenbar gar nicht, dass sie nach Studienabschluss auch im Bereich Innenarchitektur promovieren können.
9. Was sind die größten Herausforderungen für Innenarchitektur bzw. Architektur in den nächsten Jahrzehnten? Wo sehen Sie Ihre Rolle?
Bauen sollte in allen Bereichen prüfen, was tatsächlich nachhaltig ist. Was brauchen wir, lässt sich der Flächen- und Ressourcenverbrauch eindämmen? Wie gelingt es, grüne Stadtlandschaften zu erzeugen, die für Mensch und Tier lebenswert sind? Und braucht es wirklich tonnenweise Kunststoffe, um energieeffizient und fachgerecht zu bauen? Die Vorschriften erschlagen uns, es wird immer schwieriger, einfach, natürlich und trotzdem normgerecht zu bauen. Somit wird bei Neuplanungen häufig auf Konventionen zurückgegriffen. Technische Regeln müssen aus Gewährleistungsgründen natürlich eingehalten werden. Hier selbst eine führende Rolle einzunehmen, scheint aussichtslos. Aber wir können für die Planung nachhaltigere Produkte vorschlagen. Privat engagiere ich mich ehrenamtlich in einem Naturschutzbeirat.
10. Sie haben als Innenarchitektin und Mensch drei Wünsche frei...
Gesundheit und Zeit, dafür etwas zu tun. Dass mehr Menschen sich in gewaltfreier Kommunikation üben. Dass Nachhaltigkeit sowie ein sensibler Umgang mit Natur und Ressourcen keine modischen Trends bleiben, sondern zur Norm werden.
11. Was planen die raumdeuterin den nächsten Jahren?
Wir entwickeln uns ständig inhaltlich weiter, lernen und wachsen in gesundem Maße. Dazu gehören mittelfristig unser Büroumzug, der Relaunch der Webseite sowie neue Mitarbeiter einzustellen. Auch setzen wir uns intensiv mit unseren Werten und vor allem Zielen unserer Kunden auseinander. Das treibt uns jeden Tag an.
◾ Weitere Informationen zu Inga Ganzer findet Ihr auf > raumdeuter
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