Abgrenzen mit klarer Kante
In einer Eigenheimsiedlung am Rande der beschaulichen Kleinstadt Herbolzheim hebt sich ein markantes Gebäude von der herkömmlichen Bebauung ab. Die strenge Kubatur des zweigeschossigen Neubaus steht im starken Kontrast zur Satteldachidylle der umgebenden Einfamilienhäuser. Der natürliche Materialmix aus Betonfertigteilen, Stahl und Holz sowie das funktionale Raumkonzept sind ein deutliches Bekenntnis zu einer modernen und individuellen Architektur.
Ungewohnter Anblick in der Nachbarschaft
Gestalterische Vorgaben seitens der Bauherrin gab es keine, doch nach Sichtung der Vorentwürfe stand die Entscheidung zugunsten von Sichtbetonwänden aus Fertigteilen fest: „Die glatten Oberflächen und die doch immer wieder unterschiedlichen Farbnuancen von Beton faszinierten mich schon immer“, so Stefanie Drescher. Die Bauingenieurin, die ein Ingenieurbüro für Brandschutz führt, beschäftigte sich schon während ihres Studiums intensiv mit Beton, Stahl und Holz.
Herbolzheim liegt in Baden-Württemberg, etwa 30 km nördlich von Freiburg im Breisgau, eingebettet in eine malerische Naturlandschaft zwischen Weinbergen und Wäldern. Historische Gebäude aus dem 16. und 17. Jahrhundert bilden den pittoresken Stadtkern, aber auch Nachkriegsbauten sowie Neubausiedlungen zumeist am Stadtrand prägen den Ort. In einer solchen Siedlung, auf einem rund 600 m2 großen Grundstück nahe der Bundesstraße B3 befindet sich das Eigenheim von Stefanie Drescher – ein minimalistischer Massivbau aus Betonfertigteilen mit einem flachgeneigten (5%) und begrünten Dach. Der geradlinige Entwurf stammt von Schaudt + Lamprecht Architekten.
Und nun steht ihr kubisches Betonhaus in unmittelbar Nähe zu Eigenheimen mit schwarzen oder rotbraunen Giebel-, Zelt-, Pult- und Mansardendächern und in den unterschiedlichsten Fassadenanstrichen. Das dürfte für Irritationen gesorgt haben. „Während der Bauzeit waren die Anwohner schon etwas überrascht, manche skeptisch und neugierig, wer denn wohl so was baut“, erinnert sich Drescher. Doch nach herzlichen Einladungen in das fertige Eigenheim und etwas „Aufklärungsarbeit“ seien aus den meisten Bedenkenträgern Begeisterte geworden. Ein Bekannter äußerte sogar, er hätte sich das auch trauen sollen...
Betonfertigteile nach Maß
Jedes Betonelement wurde vom Fertigteilwerk nach den Maßangaben der Architekten vorproduziert. Dem Beton (C30/37, Sand, Kies nach Sieblinie F3/16er-Korn und Zement) wurde außerdem ein Fließmittel beigemischt. „Das sorgte für eine konstante Verarbeitbarkeit und Porigkeit der Oberfläche nach dem Aushärten“, erklärt Architekt Uwe Schaudt. Die Wandstärke der Elemente beträgt 36,5 cm (6 cm Betonfertigteil-Innenschale, 7cm Außenschale, 12 cm Kerndämmung, 11,5 cm Ortbeton). Alle Aussparungen und Einbauteile wie Steckdosen oder Leuchtenauslässe wurden vorgeplant. Um ein gleichmäßiges Fugenbild zu erhalten, wurden die Kanten der Betonelemente während der Produktion seitlich und oben mit einer Stahlschiene und integrierter Dreikantleiste geschalt. „Die Fuge zwischen den Elementen beträgt 1 cm, grundsätzlich lässt sich die Fugengröße nach Kundenwunsch anpassen. Durch den konischen Kantenverlauf der Stahlschienen ist das Fugenbild bei der gestellten Wand optisch deutlich zurückhaltender ausgefallen“, so Schaudt. Die maximale Größe der Betonelemente von 6,00 m x 3,00 m ergab sich durch den Betoniertisch des Fertigteilwerks. Vor Ort mussten die gewaltigen Fertigteile von einem Autokran in Position gesetzt werden. Das war gleichermaßen logistische Meisterleistung wie spektakuläres Schauspiel.
Skulpturale Treppe im Foyer setzt Akzente
Im Eingangsbereich des Neubaus fällt sofort die außergewöhnliche Treppe ins Auge. Sie ruht auf einem Betonsockel und führt in den oberen Wohnbereich. Für die Treppe wurden geschlossene Flachstahl-Rohplatten verbunden, durch Zundern geschwärzt und stellenweise blankgeschliffen, so dass der Stahl silbern durchblitzt. Ein schöner Effekt. Aufgrund des hohen Gewichts musste der Aufstieg in drei Teilen geliefert und vor Ort zusammengeschweißt werden. „Durch das filigrane Faltwerk der Treppe entsteht ein maximaler Kontrast zum schwarzen Schieferboden, dem anthrazitfarbenen Türbereich und dem grauen Sichtbeton“, erklärt Architekt Uwe Schaudt.
Individuelles Raumprogramm
Das Gebäude ist für maximal drei Bewohner konzipiert und hat insgesamt 175 m2 Wohnfläche sowie 50 m2 Nutzfläche.Das individuell auf die Bauherrin zugeschnittene Raumprogramm verteilt sich auf zwei Ebenen: Im Erdgeschoss befinden sich Schlafzimmer, zwei Bäder, Gästezimmer, ein Freizeitraum und eine integrierte Garage.Die Räume orientieren sich zu einem Innenhof hin, der sichtgeschützte Außen- und Grünflächen bietet. Der eigentliche Wohnraum befindet sich entgegen gängiger Hausplanung im oberen Stockwerk. Stefanie Drescher wollte einerseits über den Dächern wohnen und andererseits nicht auf gegenüberliegende Mauern blicken. Dieses umgekehrte Prinzip wirkt sich auch positiv auf das Raumklima der Schlafräume im Parterre aus. Das obere Geschoss besteht aus einem offenen Küchen,- Ess- und Wohnbereich plus Terrasse mit unverstelltem Blick in die Natur.
Das Haus ist nach EnEV Standard gedämmt, für Fußbodenheizung sowie Warmwasser wird Fernwärme aus dem für das Baugebiet erstellten Hackschnitzelwerk bezogen. Zusätzlich wurde eine zentrale Wohnraum Be- und Entlüftung mit Wärmerückgewinnung eingebaut.
Materialmix schafft Struktur und Wohnlichkeit
Die grauen Sichtbetonwände im Wohnbereich harmonieren perfekt mit dem Holzboden und den glatten weißen Wänden, die schwarzen Rahmen der beiden gegenüberliegenden Fensterfronten setzen grafische Akzente. Alles ist lichtdurchflutet, die Atmosphäre hell und freundlich. Besonders reizvoll sind die langen Sichtachsen. Die Möbel des Wohnbereichs sind in dezentem Grau gehalten. Der Mittelpunkt von allem ist ohnehin die Küche mit dem großem und klar strukturierten Essbereich, der sich nach Bedarf zu einer langen Tafel für viele Gäste ausbauen lässt. Wichtig waren der Bauherrin auch ausreichend große Abstellräume auf jeder Ebene, so dass der Keller wegfallen konnte – und eine große Dachterrasse mit Zugang zum Garten. In diesem Segment löst sich die massive Architektur der Hausvorderseite auf: Lediglich abgeschirmt von einer Schutzwand aus Betonfertigteilen öffnet sich das Ensemble zum Garten und Himmel und erstrahlt in weißgefärbten Wänden.
„Durch diese Komposition ergibt sich ein stimmiges und zeitloses Gesamtbild. Außerdem lassen sich durch die Materialien Holz, Stahl und Betonfertigteile unterschiedliche Wohnbereiche definieren. So hat alles klare Grenzen und Kanten“, erklärt Stefanie Drescher. Das ist die konsequente Umsetzung dessen, was die Gestaltung der Hausvorderseite vorgibt, denn hier treffen die drei Baustoffe bereits aufeinander. Dabei ist die graue Sichtbetonfassade der zurückhaltende Rahmen für den Eingangsbereich, der sich mit anthrazitfarbener Stahltür, opaker Glasfront und leuchtend roter Holzwand absetzt. In diese rechteckige massive Kubatur bildet lediglich rechts oben der überdachte Balkon einen weiteren unauffälligen Einschnitt. Fast erinnert diese konsequente Geradlinigkeit an die strikten Bildkompositionen eines Piet Mondrians in Weiß und Primärfarben – wäre da nicht das natürliche Grau des Betons.
Vielfältige Einsatzmöglichkeiten
Apropos Farbe: „Mit einer entsprechenden Gesteinskörnung und Zugabe von Pigmenten lässt sich Beton einfärben, auf Wunsch auch in weiß. Durch den Einsatz verschiedener Schalungen ergeben sich außerdem interessante Oberflächen. Architektur aus Sichtbeton ist vielfältig, hochwertig und zeitlos“, findet Architekt Thomas Lamprecht. Neben der ansprechenden Optik hat Beton seiner Erfahrung nach noch weitere Vorteile. Es ist flexibel formbar, druck- und zugfest, widerstandsfähig gegen Umwelteinflüsse sowie langlebig und eignet sich hervorragend zur Bauwerksabdichtung. Wegen seiner Offenporigkeit reguliert Beton das Raumklima und ist wärme- sowie trittschalldämmend. Die massive Bauweise ermöglicht schlanke Wände und somit einen Gewinn an Wohnfläche. „Und Beton eignet sich nicht nur zum Bauen. Auch Kunstwerke, Möbel, Lampen, Accessoires und sogar Schmuck lassen sich daraus herstellen“, so Lamprecht. Bester Beweis dafür sind die vier Buchstaben aus Beton auf einem Regal in Stefanie Dreschers Küche: Zusammen ergeben diese HOME.
Der Artikel ist verfasst im Auftrag des IZB und erschienen in der Ausgabe 3/2017 von OpusC.